Steigerung der Gelenkbeweglichkeit:

Auswirkungen von Dehnübungen auf andere Körperregionen

Welche positiven Auswirkungen gezielte Dehnübungen auf den Bewegungsapparat haben, ist erst seit relativ kurzer Zeit Gegenstand der wissenschaftlichen Forschung. Ein überwiegender Teil der Studien zeigt, dass statisches Dehnen ohne Aufwärmübungen, das länger als 60 Sekunden durchgeführt wurde, den Bewegungsradius des betreffenden Gelenks erweitern kann.1) 2) 3) 4)

Wenig Aufmerksamkeit bekam bislang die Frage, welche Auswirkungen Dehnübungen darüber hinaus haben können, und zwar auf Muskelgruppen, die nicht direkt gedehnt werden.

Ziel der hier vorliegenden Studie war es, herauszufinden, inwieweit einseitig durchgeführte statische Dehnübungen auch die Leistung der Muskelgruppen der gegenüberliegenden Körperseite, die nicht gedehnt wurde, beeinflussen.

Dabei stellte sich heraus, dass sich die Dehnübungen nicht nur auf die Muskeln, sondern auch auf die Gelenke der nicht trainierten Körperseite auswirkten. Diese Beobachtung deckt sich mit weiteren Studien, in denen festgestellt wurde, dass durch Dehnen die Beweglichkeit über die gedehnten Körperteile hinaus zunahm.5) 6) 7) 8) 9)

Veröffentlichung

Behm, D. G., Alizadeh, S., Drury, B., Granacher, U., & Moran, J. (2021). Non-local acute stretching effects on strength performance in healthy young adults. European journal of applied physiology121(6), 1517–1529. Externer Link Icon

Nebeneffekte von Dehnübungen rücken in den Fokus

Bisher wurde zu dieser Fragestellung wenig geforscht. Schließlich lag es für die Forscherwelt nicht auf der Hand, hier auf bedeutende Erkenntnisse zu stoßen. Warum sollte sich etwas Entscheidendes in den nicht trainierten Bereichen des Körpers ändern? Die Autoren dieser Studie fanden jedoch Hinweise darauf, dass sich eine tiefergehende Untersuchung dieser Frage lohnen könnte. In einer Literaturrecherche sammelten sie Daten, die ihre Annahmen bestätigten. Sie griffen hierzu auf Untersuchungen zurück, die sich in erster Linie mit den Auswirkungen von Dehnübungen auf die Leistungsfähigkeit des Muskelapparates beschäftigten. In diesem Bereich wurde schon mehr erforscht, die hier gewonnenen Erkenntnisse finden besonders im Leistungssport Beachtung.

Es handelte sich vorwiegend um Untersuchungen, die bei gesunden jungen Erwachsenen gemacht wurden. Hier ging es vor allem darum, herauszufinden, unter welchen Vorraussetzungen maximale körperliche Leistung erbracht werden kann. Dabei kam heraus, dass in der Folge von Dehnübungen Muskelkraft, Ausdauer und Laufleistung der direkt angesprochenen Muskeln in einem geringfügigen, aber dennoch relevanten Ausmaß abnahmen. Unter Umständen ist es daher für Leistungssportlerinnen und Leistungssportler, die in einem Wettkampf maximale Leistung abrufen wollen, besser, in der Vorbereitung auf statisches Dehnen zu verzichten.

Bedeutung der Ergebnisse für Erkrankte

Für Menschen, die unter Schmerzen oder Erkrankungen des Bewegungsapparates leiden, ist das von geringer Bedeutung. Trotzdem sind die Ergebnisse auch für diese Personengruppe interessant.

Es stellte sich heraus, dass längeres, statisches, nur auf einer Körperseite durchgeführtes Dehnen sich zwar negativ auf die Muskelleistung auswirkte. Es wirkte sich aber positiv auf den Bewegungsradius aus.10) 11) 12) 13) Während die Muskelkraft abnahm, nahm die Beweglichkeit zu. Das galt auch für Körperregionen, die nicht direkt mit Übungen angesteuert wurden.14)

Dieses Wissen könnte man gezielt zur Unterstützung von Heilprozessen einsetzen. Muss beispielsweise ein Bein nach einem Beinbruch ruhiggestellt werden, um gut heilen zu können, nimmt die Beweglichkeit der Gelenke zwangsläufig ab. Wenn der Patient oder die Patientin während dieser Zeit mit dem anderen, gesunden Bein gezielt übt, hat das unter Umständen positive Auswirkungen auf das erkrankte Bein. Wie die Ergebnisse zeigen, erweiterte sich der Bewegungsradius eines nicht trainierten Körperteils nach Übungen mit dem gegenüberliegenden Körperteil, das trainiert wurde, ebenfalls – wenn auch nicht in großem Ausmaß.
Mann mit Beinverletzung versucht, sich an Krücken aufzustützen und von einer Parkbank aufzustehen

© Standret | Shutterstock.com (bearbeitet)

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Ursachen nicht-lokaler Dehnungseffekte

Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler halten zur Zeit 2 Ursachen für möglich.15) Das sind:

Hinweise auf neuronale Mechanismen

Zu dieser Art von Mechanismen gehören exterozeptive Reflexe, also die Aufnahme und Verarbeitung von Reizen, die von außen kommen, sowie die Veränderung von persistenten Einwärtsströmen, die die Signalverarbeitung auf Zellebene betreffen. Weitere Einflüsse lassen sich auf psycho-physiologischer Ebene ausmachen. In einer Studie wurde festgestellt, dass eine einseitige Dehnung der Hüftbeuger-Muskulatur eine Zunahme des Bewegungsradius um 6,3 % erbrachte. Auf der anderen, nicht gedehnten Körperseite nahm der Bewegungsradius dadurch ebenfalls zu, und zwar um 5,7 %.23) Die Zunahme des Bewegungsradius auf der nicht gedehnten Seite war also fast genauso groß wie auf der gedehnten Seite.

Illustration Muskeln menschlicher Körper von vorne und von der Seite, Hüftbeuger farblich hervorgehoben

adike | shutterstock.com (bearbeitet)

Hüftbeuger-Muskulatur in der Vorder- und Seitansicht

Reaktionen, die Faszienketten im Körper auslösen

Die Wirkung der Faszienketten unterscheidet sich von der Wirkung der neuronalen Mechanismen. Können bei den neuronalen Mechanismen die jeweils gegenüberliegenden Körperteile angesprochen werden, sind es bei den Faszienketten diejenigen, die über diese Zellstrukturen auf verschiedene Weise miteinander verbunden sind.24) 25) 26)

Diese Körperteile können mitunter weit voneinander entfernt liegen und trotzdem aufeinander einwirken. Offenbar stehen die Faszien untereinander in Verbindung und bilden von der Fußsohle bis zum Scheitel ein sich gegenseitig beeinflussendes System. So konnte beispielsweise nachgewiesen werden, dass sich die Beweglichkeit der Kopf- und Nackenpartie verbesserte, nachdem die hintere Oberschenkelmuskulatur27) oder Wadenmuskulatur28) gedehnt wurde. Das bedeutet also, dass Menschen, die zum Beispiel einen Spagat machen, dadurch auch ihre Nackenmuskulatur lockern.

Illustration Muskeln menschlicher Körper von hinten und von der Seite, Faszienketten farblich hervorgehoben

adike | shutterstock.com (bearbeitet)

Faszienkette in der Rück- und Seitansicht

Nutzen für Sportlerinnen und Sportler und Patientinnen und Patienten

Die Autoren dieser Studie haben einige überraschende Ergebnisse zusammengetragen, die zeigen, dass eine tiefergehende Erforschung von nicht lokalen Dehnungseffekten lohnenswert ist. Dehnübungen haben Auswirkungen sowohl auf die Leistungen von Spitzensportlerinnen und Spitzensportlern wie auch auf Heilprozesse bei Erkrankten. Weitere Erkenntnisse können Trainingsabläufe und Rehabilitationsagebote verbessern, viele Menschen würden davon profitieren.

Quellen & Studien

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