Gesundheits-Statistik belegt:

Viele Rücken-Operationen sind unnötig

Bei Rückenleiden wird in Deutschland zu schnell zum Messer gegriffen – das stellte der Sachverständigenrat des Bundesministeriums für Gesundheit schon vor über 20 Jahren fest. Eine Analyse der Bertelsmann-Stiftung zeigt nun, dass sich daran in der Zwischenzeit nicht viel geändert hat und welche Gründe es dafür gibt.

Rückenschmerzen sind eine Volkskrankheit, etwa 85 Prozent der Bevölkerung leiden mindestens einmal in ihrem Leben darunter.1) In seinem Gutachten für das Gesundheitsministerium hob der Sachverständigenrat hervor, dass konservative Therapien in vielen Fällen wirkungsvolle Behandlungsmöglichkeiten bieten, Rückenprobleme dauerhaft in den Griff zu bekommen. Demzufolge waren viele Operationen unnötig, die schonenden Behandlungsmöglichkeiten wurden nicht ausreichend ausgeschöpft.2)

Eine Analyse der aktuellen Situation in der Gesundheitsversorgung zeigt, dass diese Fehlversorgung zwei Jahrzehnte später nach wie vor besteht. Zu diesem Schluss kommt eine Studie der Bertelsmann-Stiftung. In ihrem „Faktencheck Rücken“ analysierte die gemeinnützige Organisation unter anderem die Entwicklung operativer Eingriffe in Deutschland über einen Zeitraum von etwa 15 Jahren.3) Der aktuelle Bericht des Sachverständigenrates bestätigt diese Ergebnisse eindrücklich.4)

Bei Rückenleiden wird in Deutschland zu schnell zum Messer gegriffen – das stellte der Sachverständigenrat des Bundesministeriums für Gesundheit schon vor über 20 Jahren fest. Eine Analyse der Bertelsmann-Stiftung zeigt nun, dass sich daran in der Zwischenzeit nicht viel geändert hat und welche Gründe es dafür gibt.

Veröffentlichung

„Faktencheck Rücken – Rückenschmerzbedingte Krankenhausaufenthalte und operative Eingriffe: Mengenentwicklung und regionale Unterschiede“, Karsten Zich, Thorsten Tisch. Bertelsmann-Stiftung/ IGES. Gütersloh, 2017. Externer Link Icon

Rückenschmerzen sind eine Volkskrankheit, etwa 85 Prozent der Bevölkerung leiden mindestens einmal in ihrem Leben darunter 5). In seinem Gutachten für das Gesundheitsministerium hob der Sachverständigenrat hervor, dass konservative Therapien in vielen Fällen wirkungsvolle Behandlungsmöglichkeiten bieten, Rückenprobleme dauerhaft in den Griff zu bekommen. Demzufolge waren viele Operationen unnötig, die schonenden Behandlungsmöglichkeiten wurden nicht ausreichend ausgeschöpft. 6).

Eine Analyse der aktuellen Situation in der Gesundheitsversorgung zeigt, dass diese Fehlversorgung zwei Jahrzehnte später nach wie vor besteht. Zu diesem Schluss kommt eine Studie der Bertelsmann-Stiftung. In ihrem „Faktencheck Rücken“ analysierte die gemeinnützige Organisation unter anderem die Entwicklung operativer Eingriffe in Deutschland über einen Zeitraum von etwa 15 Jahren 7). Der aktuelle Bericht des Sachverständigenrates bestätigt diese Ergebnisse eindrücklich 8).

Bilanz nach 20 Jahren: OP-Zahlen steigen trotz eindeutiger Feststellung von Über- und Fehlversorgung

Bei genauer Betrachtung der erhobenen Daten zeigt sich, dass sich die Lage zugespitzt hat. Die Anzahl der Operationen am Rücken stieg trotz der eindeutigen Faktenlage in den letzten 20 Jahren weiter an: Wurden im Jahr 2007 in Deutschland 452.000 Patienten an der Wirbelsäule operiert, steigerte sich diese Zahl im Jahr 2015 auf 772.000 Eingriffe. Das entspricht einem Zuwachs von 71 Prozent. Spitzenreiter mit einer Steigerung von 92 Prozent der operativen Eingriffe ist die Knöcherne Dekompression, während die Entfernung von Bandscheiben im selben Zeitraum lediglich 7 Prozent häufiger durchgeführt wurde.

Offensichtlich ist in der Zwischenzeit keine ausreichende Veränderung in Richtung einer angemessenen Behandlung von Rückenleiden eingetreten. Die umfangreichen Bemühungen, eine Patientenversorgung nach diesen hinzugewonnenen wissenschaftlichen Erkenntnissen auszurichten, liefen in vielen Bereichen ins Leere. Die Potenziale durch eine Betreuung von niedergelassenen Ärzten und eine Behandlung mit konservativen Therapien werden nicht genügend genutzt, viele Patienten sind nach wie vor nicht ausreichend darüber informiert, welche Behandlungsalternativen ihnen zur Verfügung stehen.

Mögliche Ursachen dieser Fehlentwicklung

Bessere Diagnostik

Die ständige Weiterentwicklung der Diagnoseverfahren trägt dazu bei, dass Abweichungen von der Norm schneller und häufiger erkannt werden. Allein auf dem Gebiet der bildgebenden Verfahren ist in den vergangenen Jahren ein großer Entwicklungsprozess in Gang gekommen. Durch den flächendeckenden Einsatz der Magnetresonanztomographie (MRT) hat sich ein neuer Standard in der Diagnostik etabliert. Die MRT-Bilder machen es möglich, detaillierte Schnittbilder des menschlichen Körpers zu erhalten. Diese eignen sich besonders dafür, Weichteile des Körpers darzustellen. Dazu gehören unter anderem Rückenmark, Bandscheiben und Gelenke. Je mehr die Radiologen auf den MRT-Bildern sehen, desto häufiger können sie auch etwas diagnostizieren. Die Anzahl der Befunde einer Abnormität an Rumpf und Rücken sind dadurch gestiegen.9) Nur besagt eine Abweichung von der Norm noch nicht, dass eine Erkrankung vorliegt. Solange die Person mit einem Befund keine Schmerzen verspürt und keine Einschränkung in der Beweglichkeit, ist eine Therapie, zumal ein operativer Eingriff, oftmals nicht angebracht. Selbst wenn der Patient Schmerzen verspürt, muss der Befund auf dem MRT nicht unbedingt die Ursache der Schmerzen sein.10)

Finanzielle Anreize

Etwas verklausuliert heißt es in der Studie:

„Die ab 2017 gültige Vereinbarung gemäß § 17b Absatz 1 Satz 5 zweiter Halbsatz KHG i. V. m. § 9 Absatz 1c KHEntgG zur gezielten Absenkung von Bewertungsrelationen zwischen dem GKV-Spitzenverband, dem Verband der privaten Krankenversicherung und der Deutschen Krankenhausgesellschaft stuft erstmals sieben DRGs aus dem Bereich der operativen (…) Behandlungen der Wirbelsäule als Leistungen ein, bei denen es Anhaltspunkte für wirtschaftlich begründete Fallzahl-Steigerungen gibt.“

Vereinfacht bedeutet das, die Operation wird unter anderem durchgeführt, weil sie sich für das Krankenhaus als besonders lukrativ erweist. Die Frage, ob eine andere Therapie geeignet sein könnte, den Patienten von seinen Schmerzen zu befreien, steht hier nicht im Mittelpunkt. Auch wenn davon ausgegangen werden darf, dass den Operateuren das Wohl der Patienten auch in diesen Fällen ein Anliegen ist, legen die Analysen nahe, dass finanzielle Anreize die Entscheidung zu einer Operation beeinflussen können.

Keine Zweitmeinung eingeholt

In den Gesundheitssystemen vieler anderer Länder gehört es zum Standard, vor bestimmten Operationen eine ärztliche Zweitmeinung einzuholen. In Deutschland haben gesetzlich versicherte Patienten mit Rückenbeschwerden inzwischen bei Wirbelsäulenoperationen einen Anspruch darauf, bei allen anderen Eingriffen am Rücken nicht.

Die Ergebnisse sind eindeutig: So wurde in einer Datenerhebung mit 3824 Patienten, die vor einer geplanten Rücken-Operation eine Zweitmeinung einholten, festgestellt, dass in der Folge bei nur 8 Prozent der Fälle eine Operation befürwortet wurde.11)

Die Mehrheit der Patienten konnte etwa zu gleichen Teilen mit einer Optimierung der Regelversorgung oder einem Übungsprogramm wirksam behandelt werden.

Die Rolle der Patienten

Oft können die Patienten selbst einen wichtigen Beitrag leisten, ihre Rückenleiden optimal zu behandeln. Die eigene Erwartungshaltung spielt dabei eine große Rolle. Patienten, die eine ärztliche Meinung für unumstößlich halten, werden diese nicht in Zweifel ziehen. Diese Menschen halten es seltener für notwendig, eine Zweitmeinung einzuholen.

Tortendiagramm mit Verteilung der Behandlungsart nach Einholen einer Zweitmeinung zur Rücken-OP. 8% Empfehlung zu OP, 47% Optimierung der Regelversorgung , 45% intensives Übungsprogramm

© Liebscher & Bracht

Verteilung der Behandlungsformen nach Einholen einer Zweitmeinung: bei 8% blieb es bei einer Empfehlung zur Operation, bei 47% reichte es aus, die Regelversorgung zu optimiere, bei 45% wurde durch ein intensives konservatives Therapieprogramm eine Operation vermieden (Zeitraum: 2010-2017).

Andere Patienten haben die Vorstellung, ihr Körper gleiche einer Maschine. Wenn ein Bauteil kaputt ist, wird es repariert. Zumindest wird erwartet, dass der Arzt Medikamente verschreibt, einen Verband anlegt oder eine Spritze setzt. Wenn der Arzt lediglich Ratschläge zur eigenen Lebensführung gibt, sind viele Patienten enttäuscht. Diese Einstellung, man selbst könne nichts aktiv zur Heilung eines Leidens beitragen, ist weit verbreitet. Wenn ein Patient  aktiv mitarbeitet, kann er oft selbst erfolgreich etwas dazu beitragen wieder gesund zu werden.

Lösungsansätze

Die Analyse kommt zu dem Schluss, dass folgende 3 Faktoren maßgeblich beeinflussen, ob ein Patient bei Rückenleiden operiert wird oder nicht:

1. Faktor behandelnder Arzt

Ein Einflussfaktor ist die Qualität der Betreuung durch den niedergelassenen Arzt. Die Entscheidung zu einer Operation hängt ganz stark davon ab, wie gut der Arzt seinen Patienten betreut, welche Mittel er zur Diagnostik einsetzt und welche Aufklärungs- und Therapieangebote er macht.

2. Faktor Patientenmündigkeit

Die Mündigkeit des Patienten ist ebenfalls ein wichtiger Aspekt. Die Verantwortung, wie ein Leiden behandelt werden soll, liegt beim Patienten und nicht beim Arzt. Der Patient hat es selbst in der Hand, die für ihn optimale Entscheidung zu treffen. Eine Fülle von seriösen Informationsangeboten stehen ihm dafür zur Verfügung: Er kann sich bei unabhängigen Stellen informieren, er kann recherchieren, er kann sich eine zweite fachliche Meinung einholen. Mit einem Überblick über Optionen, Vor- und Nachteile kann er sich bewusst für eine Behandlungsform entscheiden.

3. Faktor Gesundheitspolitik

Die Einflussmöglichkeiten der Gesundheitspolitik sind ebenfalls maßgeblich. Es ist wissenschaftlich gut belegt, dass Unterschiede in der Behandlung eines Krankheitsbildes immer dann besonders groß ausfallen, wenn klare medizinische Leitlinien fehlen. Es wird vermutet, dass die extremen Unterschiede in der Entscheidung für eine Therapie bei Rückenleiden zum Teil darauf zurückzuführen sind. Die Verfasser der Studie kritisieren den Gemeinsamen Bundesausschuss der Ärzte, Krankenkassen und Krankenhäuser dafür, dass er von seiner Möglichkeit, entsprechende Regelungen einzuführen, bislang noch nicht ausreichend Gebrauch gemacht hat.

Ausblicke für die Patienten

Die Analyse der Bertelsmann-Stiftung zeigt auf, wie wichtig es ist, dass sich Patienten selbstbestimmt und konstruktiv mit ihren Rückenleiden auseinandersetzen. Wenn als Behandlungsmethode eine Operation im Raum steht, ist es in vielen Fällen hilfreich, eine Zweitmeinung einzuholen und die Möglichkeiten schonender Therapieformen besser auszuschöpfen. Der Gemeinsame Bundesausschuss hat dazu ein Merkblatt herausgebracht,12) das eine erste Orientierung geben kann. Zu einer wirksamen Behandlung von Rückenschmerzen stehen oft mehrere Wege offen. Das ist eine gute Nachricht für alle Betroffenen.

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