Volkskrankheit Kniearthrose:

Mit besserer Vorsorge ist der Einsatz einer Knieprothese oft vermeidbar

Arthrose zählt zu den weit verbreiteten Krankheiten unserer modernen Zivilisation. Zu den am häufigsten betroffenen Gelenken gehört das Knie. Allein in Deutschland erkrankt jeder vierte Mensch im Laufe seines Lebens an Kniearthrose. Während des Krankheitsverlaufs landet jeder fünfte Betroffene auf dem OP-Tisch und wacht mit einer Knieprothese wieder auf. Der Nutzen für Patientinnen und Patienten ist jedoch oft fragwürdig.

Die DAK, eine der großen deutschen gesetzlichen Krankenversicherungen, analysiert in einer Studie Vor- und Nachteile einer Knieprothesenoperation und zeigt Alternativen für eine Erfolg versprechende Behandlung von Kniearthrose auf.1)

Jeden Tag erhalten in Deutschland etwa 500 Patientinnen und Patienten mit Kniearthrose ein künstliches Kniegelenk.2) Damit liegt unser Gesundheitssystem weltweit an der Spitze beim Einsatz von Prothesen.3) Es ist jedoch ein Trugschluss, anzunehmen, dass der Einsatz einer Gelenkprothese in jedem Fall die optimale Behandlung einer Kniearthrose darstellt. Oft wird eine Operation durchgeführt, ohne im Vorfeld die Möglichkeiten der fachärztlichen und konservativen nicht-medikamentösen Maßnahmen, insbesondere der Bewegungstherapien, auszuschöpfen. In vielen Fällen verbessert sich der Gesundheitszustand nach einem Eingriff nicht.

In anderen Ländern mit einer ähnlichen Bevölkerungsstruktur und hohen medizinischen Standards werden deutlich mehr Anstrengungen unternommen, die Patientinnen und Patienten mit konservativen Methoden zu versorgen. Die Erfolge können sich sehen lassen.

Veröffentlichung

Andreas Storm (Hg.), Versorgungsreport Knieschmerzen/Gonarthrose, Beiträge zur Gesundheitsökonomie und Versorgungsforschung (Band 40), Hamburg 2022. Externer Link Icon

Hohe Ausgaben für Patientinnen und Patienten sind kein Garant für Heilungserfolge

Die Analyse der anonymisierten Daten von Kniearthrose-Erkrankten zeigt, dass in Deutschland jede 10. OP vermeidbar und der Erhalt des Kniegelenks möglich wäre. Selbst für den Fall, dass der Einsatz eines künstlichen Kniegelenks unausweichlich ist, könnte dieser bei verbesserten konservativen Behandlungsmaßnahmen wie der konsequenten Durchführung von Physiotherapie durchschnittlich um 7 Jahre hinausgezögert werden.

Menschen, die regelmäßig und über einen längeren Zeitraum ihre Gelenke schonend trainieren, bauen Muskeln auf und erhöhen ihren Bewegungsradius nachhaltig. Auf die individuelle Lebenszeit bezogen ist das ein großer Zeitraum, in dem für viele Kniearthrosepatientinnen und -patienten ein lebenswerteres Leben möglich wäre.

Insgesamt ergibt sich aus den Daten folgendes Bild: Trotz einer flächendeckenden und qualitativ hochwertigen medizinischen Versorgung gelingt es in Deutschland nicht, bei den Betroffenen bessere Heilungserfolge zu erzielen.

Schlüsselfaktoren der Fehlversorgung

Wie immer kann man bei Entwicklungen dieser Art nicht nur eine Ursache dafür verantwortlich machen. Mehrere Faktoren spielen eine unterschiedlich große Rolle:

Falsche Anreize der Gesundheitspolitik

Es ist erwiesen, dass konservative Behandlungsmethoden die Beweglichkeit des Kniegelenks verbessern und Schmerzen lindern.4) Für Versicherte der gesetzlichen Krankenkassen ist es jedoch oft schwierig, zum Beispiel eine ausreichende Anzahl von Physiotherapie-Rezepten zu erhalten. Grund dafür sind die Vorgaben der Versicherer. Ärztinnen und Ärzte dürfen pro Quartal nur eine begrenzte Menge an Krankengymnastik verschreiben. Dabei sind diese Therapieformen besonders wirksam, um eine Operation am Knie zu vermeiden oder zumindest aufzuschieben.

Ein Operationstermin hingegen kann oft relativ einfach angesetzt werden. Das liegt auch an den finanziellen Anreizen, die die Gesundheitspolitik den Kliniken bietet. Der Einsatz einer Knieprothese ist betriebswirtschaftlich lohnenswert. In den letzten Jahren wurden die Fallpauschalen immer wieder erhöht. Das hat Folgen: Das Statistische Bundesamt stellte fest, dass in den Jahren 2013 bis 2019 die Anzahl der in Deutschland durchgeführten Kniegelenkimplantationen um über 35 Prozent stieg. Die Anzahl der Patientinnen und Patienten mit Kniearthrose im Endstadium veränderte sich in diesem Zeitraum kaum.

Grafik mit zwei vertikalen Balken: Implantationen des Kniegelenkersatzes in Deutschland, Steigerung von 2013 zu 2019 um 35%

© Liebscher & Bracht

Regionale Unterschiede

Fragen werfen auch die unterschiedlichen Fallzahlen in den einzelnen Bundesländern auf. In Berlin kommen auf 100.000 Einwohner 153 Einsätze eines künstlichen Kniegelenks, während in Bayern 260 Operationen je 100.000 Einwohner durchgeführt wurden. Bei Bewohnern in Bayern ist damit die Wahrscheinlichkeit, eine Knieprothese zu erhalten, um 70 Prozent höher als bei den Bewohnern Berlins, obwohl die Anzahl der Neuerkrankungen in Berlin und Bayern nahezu identisch ist. Dafür gibt es keine ausreichende medizinische Erklärung.

Grafik mit zwei vertikalen Balken: Einsatz eines künstlichen Kniegelenks ist in Bayern um 70% wahrscheinlicher als in Berlin

© Liebscher & Bracht

U-förmige Versorgung der Patientinnen und Patienten

Die Daten der Krankenversicherung zeigen ein typisches Muster auf:

  • Zu Beginn der Erkrankung lassen sich die Betroffenen relativ häufig ärztlich beraten und mit konservativen Therapien behandeln.
  • Im weiteren Krankheitsverlauf nehmen Beratung und Behandlungsaktivitäten ab.
  • Die Talsohle ist erreicht, wenn die Schmerzen und Einschränkungen in der Beweglichkeit so stark zugenommen haben, dass sie die Lebensqualität massiv einschränken. Dann steigt der Bedarf an Beratung und Maßnahmen, etwas gegen die Symptome zu unternehmen, wieder an.

Zu diesem Zeitpunkt ist es jedoch oft zu spät, mit konservativen Therapien langfristig Heilerfolge zu erreichen. Über 60 Prozent der Versicherten erhalten in diesem Zeitraum keine Verordnung von Physiotherapie. Das deutet darauf hin, dass in der Versorgung nicht mehr viel unternommen wird, einer Operation zu entgehen oder zumindest den Zeitpunkt dafür hinauszuschieben.

Über die Gründe für diese fehlgeleitete Entwicklung kann nur spekuliert werden: Sind es die Betroffenen selbst, die sich mit ihrer Erkrankung abfinden, bis der Leidensdruck zu hoch wird? Sind es die Ärztinnen und Ärzte, die zu wenige konservative Therapieangebote ermöglichen oder Maßnahmen empfehlen, die wenig zielführend sind? Aus den Daten der Studie lassen sich zumindest Hinweise auf Defizite seitens der fachärztlichen Behandlung ablesen.

Fachärztliche Behandlungen bei Knie-Arthrose: 53,4% lassen sich im ersten Jahr nach der Diagnose fachärztlich behandeln, im zweiten Jahr sind es nur 14,5%, im letzten Jahr vor der OP sind es 56,5%

© Liebscher & Bracht

Risiken beim Einsatz einer Knieprothese

Was nicht außer Acht gelassen werden sollte: Eine Knieprothesenoperation stellt eine große Belastung für den Körper dar. Abgesehen von dem Risiko, dass schwerwiegende Komplikationen auftreten können, muss der Körper viel leisten, damit die Wunden heilen. Die Heilprozesse ziehen sich oft über viele Monate, manchmal Jahre hin. Auch nach einer Operation können Schmerzen weiterhin bestehen oder neue auftreten. Bei etwa einem Viertel der am Knie Operierten verbessern sich die Beschwerden nicht.5) Bei über 5 Prozent der Operierten muss die Operation aufgrund eines mangelnden Ergebnisses wiederholt werden, bei den 40 bis 60-jährigen sind es sogar fast 9 Prozent.6)

Bessere Versorgung durch koordinierte Behandlungsangebote und aktive Beteiligung der Betroffenen

Der Blick über die Landesgrenzen zeigt, dass es auch anders geht. In Großbritannien und in Dänemark werden Kniearthrosepatientinnen und -patienten Versorgungskonzepte angeboten, die auf Erfahrungswerten und klug ineinandergreifenden konservativen Maßnahmen basieren.7) 8) Dabei spielen die Patientinnen und Patienten selbst eine wichtige Rolle. Die Erfahrungen zeigen, dass Aktivität und Eigenverantwortung der Betroffenen maßgeblich zu einem Behandlungserfolg beitragen.9) Durch Wissensvermittlung, Änderung des Lebensstils und kontinuierliche körperliche Aktivität sollen die Patientinnen und Patienten dazu befähigt werden, das Fortschreiten der Erkrankung aufzuhalten. Die regelmäßige Durchführung von speziellen Bewegungsübungen, zunächst unter fachlicher Anleitung, später dann selbstständig zu Hause, ist ein Hauptbestandteil dieser Versorgungskonzepte.

Zehntausende haben diese Programme bereits erfolgreich durchlaufen. Die Ergebnisse sind eindeutig: Die Schmerzen nahmen um fast ein Drittel ab, die Beweglichkeit wurde signifikant gesteigert. Insgesamt empfanden die Teilnehmerinnen und Teilnehmer dieser Programme ihr Leben deutlich lebenswerter.10)

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Risikofaktor Übergewicht

Offensichtlich besteht ein Zusammenhang von starkem Übergewicht und dem Auftreten einer Kniearthrose. Mehr als ein Viertel der neuerkrankten Kniearthrosepatientinnen und -patienten sind stark übergewichtig, bei den chronisch an Kniearthrose Erkrankten steigt diese Wert weiter an, bei Patientinnen und Patienten, die ein künstliches Kniegelenk eingesetzt bekommen, sind es fast 40 Prozent. Unter den jüngeren Patientinnen und Patienten sind es sogar über 60 Prozent. Im Rahmen einer Behandlung von Kniearthrose sollte die Bekämpfung von starkem Übergewicht demnach eine wichtige Rolle spielen.

Anteil der an Kniearthrose Erkrankten mit Adipositas: Neuerkrankte 25%, Erkrankte mit Knieprothese 38,1%, Erkrankte mit Knieprothese unter 60 Jahre 61,4%

© Liebscher & Bracht

Kernelemente einer erfolgreichen Behandlung

Viele Risikofaktoren für Kniearthrose lassen sich durch Prävention gezielt verringern. Mit konservativen Therapieformen wie Bewegungstherapien kann auch im Fall einer Erkrankung viel erreicht werden. Die Möglichkeiten, die sie bieten, sollten besser genutzt werden. Wie die Beispiele aus Großbritannien und Dänemark zeigen, können koordinierte Versorgungskonzepte, in denen die wichtigsten Elemente in Theorie und Praxis vermittelt werden, die Lebensqualität der Betroffenen nachweislich langfristig verbessern.

Eine Analyse der internationalen Leitlinien zur Behandlung von Kniearthrose11) 12) 13) 14) 15) und die Erfahrung aus den Versorgungsangeboten aus Großbritannien und Dänemark zeigen, dass eine wirksame konservative Behandlung von Kniearthrose im Wesentlichen aus 3 Kernelementen besteht:

  • Beweglichkeits-, Ausdauer- und Krafttraining
  • Patientenedukation
  • Anleitung zur Gewichtsreduktion

Für die Studie der DAK wurden Daten von 287.427 Versicherten mit Kniearthrose erhoben. Damit sind die Ergebnisse sehr aussagekräftig. Sie legen offen, an welchen Stellen angesetzt werden kann, die qualitativ hochwertigen Möglichkeiten, die das Gesundheitssystem prinzipiell bietet, erfolgreicher zu koordinieren. Die Modellrechnungen der Studie prognostizieren, dass der Einsatz der hier aufgeführten Maßnahmen in Deutschland eine deutliche Verbesserung der Versorgung von Kniearthrosepatientinnen und -patienten bringen würde. Mehrere gesetzliche Krankenkassen bieten ihren Versicherten in Pilotprojekten bereits ein daran angelehntes Konzept an.16) 17)

Quellen & Studien

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